Sie kam im Jahr der großen Dürre, 1961. Helga, ein Schatten und Angst, mitten in einem Frachtraum voller Heu und dem fahlen Licht eines Batterielämpchens. Der Ituri-Wald, den sie kannte, war ein Gewebe aus Geruch und Klang – feuchte Erde, verrottendes Holz, das metallische Zirpen der Zikaden, das tiefe Brummen der Waldelefanten, das leise Rascheln von Fingern auf Rinde. Hier, in der Kiste, war alles steril, dumpf, tot.
Marion Ahlers, damals noch jung und neu im Duisburger Zoo, sah mehr als nur ein verängstigtes Tier. Sie sah Augen, die zu viel gesehen hatten. Helga saß Tage nur da, ein Fellbündel in der Ecke ihres neuen, viel zu kleinen Geheges. Sie rührte kein Futter an, reagierte kaum auf Rufe. Willem, der schon im Zoo geborene Schimpanse aus Arnheim, der seinen Blechnapf wie ein balinesisches Gamelan bearbeitete, war ihr fremd. Seine Geräusche waren zu hart, zu konstruiert. Sie verstand seine Rhythmen nicht, nur die Leere, die sie in ihr hinterließen.
Marion ließ sie in Ruhe, brachte ihr frische Zweige, legte abends eine Handvoll getrocknete Früchte nah an die Gitterstäbe. Sie sprach leise, sang manchmal alte Kinderlieder. Eines Tages, nach Wochen der Stille, rollte Helga einen kleinen, vertrockneten Farnzweig zu Marions Füßen. Es war eine Geste, kaum mehr als ein Lufthauch, aber für Marion war es die Tür zu Helgas Welt.
Der Schmerz der Eingewöhnung saß tief in Helga. Sie hatte Alpträume vom Fang, von den gellenden Schreien ihrer Familie, vom erstickenden Geruch des Äthers. Marion fand sie oft zitternd in ihrer Schlafbox, ihr Atem ging stoßweise. Marion wusste, dass Musik für Helga anders war als für Willem. Keine Performance. Es war Trost.
Helga liebte die leisen, summenden Geräusche, die Marion beim Reinigen des Geheges machte. Das sanfte Plätschern des Wassers aus dem Schlauch, das rhythmische Wischen der Bürste, Marions leises Summen. Das waren ihre „Flüstertöne des Ituri“ – Erinnerungen an das subtile Rauschen des Regenwaldes, die sie in der Fremde vermisste.
Als der kleine Werner geboren wurde, zierlich und schmächtig, war es Helga, die ihn sofort zu Marion brachte, als wäre die Pflegerin eine zweite Mutter. Sie vertraute ihr blind. Doch als Werner begann, auf der Lenorflasche zu spielen, die Sanostol-Werbemelodie zu trällern und die Geräusche der Besucher zu imitieren, wusste Helga: Dieser kleine Schimpanse war anders. Er war zu begabt, zu einzigartig, um sein Leben hinter Gittern zu verbringen.
Marion, die Werners Talent ebenfalls erkannte, verstand Helgas stumme Botschaft. In langen, leisen Gesprächen, die nur durch Blicke und Gesten geführt wurden, schmiedeten sie einen Plan. Helga drängte, Marion suchte nach Möglichkeiten. Sie kannte jemanden, der jemanden kannte, der an der Folkwang-Hochschule in Werden arbeitete. Und so kam es, dass Marion das viel zu große Sakko aus dem Altkleidersack holte und den Vierfahrtenschein für den VRR besorgte. Helga beobachtete das alles mit stiller Intensität, eine Wächterin der Seele, die ihrem Sohn ein Leben in Freiheit und mit Musik ermöglichen wollte. Sie hatte den Künstler in Werner erkannt.
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