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Mein erstes Mahl

Blick zurück: Anfang der 80er. Ja, wie alt war ich? Vielleicht zwölf. Bootsferien. Der Herbst zuvor: Holland!  Die Nachbarn waren auch mit von der Partie. Mein Vater hatte null Ahnung von der Christlichen Seefahrt. Der Nachbar (Philologe) hatte auch nur mal als Student auf einer Zechenbahn in Essen-Kray als Heizer ausgeholfen. Tag eins war eine Beinahkatastrophe. Ablandiger Wind. Muss ich mehr sagen?

Die beiden Kapitäne hatten komplett die Kontrolle über das Boot verloren. Den beiden Holländern, die uns geholfen haben, die Meeuwe sicher in den Hafen von in Blokzijl zu manövrieren, gehört heute noch der Orden vom Niederländischen Löwen mindestens(!) im Kommandeursrang verliehen. Wie Eindampfen über die Vorspring geht, weiß ich seither.  Bootsferien is' wohl nix für uns. Dachte ich.

Der nächste Herbst kam, die nächsten Bootsferien kamen."Iiiiich fahr' nicht mehr mit", stellte meine Mutter rigoros  klar. Die Nachbarn blieben an Bord.  Mutter Nachbarin, der Philologe und ein Typ ungefähr in meinem Alter. Diesmal war frühes Aufstehen angesagt, denn es ging nach Frankreich. An den Canal du Nivernais. Was sollte da schon groß anders sein als bei den Holländern?

Bootsübernahme an der Schleuse von Fleury. Donnerschock! Das war kein Boot. Das war ein Pappkarton mit innenliegendem Außenborder. Dieser Bootstypwitz schimpfte sich - die Franzosen haben einen speziellen Humor: Flot Home. Ergebnis einer AB-Maßnahme aus Nordengland.

"English?", fragte Marie-Noëlle, die Einweiserin in Flipp-Flopps, Wir antworteten wahrheitsgemäß: "No." - "Little French, perhaps?" "Oui!", sagte mein Vater. Was komplett gelogen war. Ich konnte damals noch null Französisch und mein Vater - sagen wir mal - sehr, sehr wenig. Aber immerhin. Der Philologe konnte, hielt sich aber vornehm zurück. Blätterte dann und wann in einem kleinen, gelben Langescheidt, um "ich finde nix" zu murmeln.

Im Pappkarton ging es mit schlichter Eleganz weiter. Die Meeuwe war ein stattliches Schiff gewesen. Ruderstand, Salon, zwei Nasszellen, Klampen, Taue, Echolot, Ukw-Radio, Bugstrahlruder, Gedönsrath - halt alles was man an Bord so braucht. Aber hier? Der Steuerstand war eine verkratzte Plexiglasscheibe, um die eine schwarze Persenning rumgewurschtelt worden war, die Mutter Nachbarin am Vorletztentag auch noch unauffindbar im Hafenbecken von Decize versenken sollte. Ein Haftpflichtschaden. Heute lachen wir drüber. Weiter im Text: Der Steuerstand. Klappbar? Zum Glück! "Eh, if you don't like, you kön do it away", sagte Flipp-Flopp. Tröstlich.

Nasszelle eins war ein Eimer mit blauer Chemie. "Sö toilette." Flipp-flopp, flipp-flopp. Nasszelle zwei war dann so ein Pumpding mit Brausekopf dran, das an Opas alte Giftspritze erinnerte. "Sö douche. Have to cook l'eau chaude, eh hot woter. Otherwise cold." Nee, is klar. Flipp-flopp, flipp-flopp. Nächstes Pumpding war die Spüle in der Bordküche. 50-Liter-Kanister. Handlich! Oh, es gab sogar *zwei* Gasplatten. Flipp-flopp, flipp-flopp.  Pumpding numero drei war die Kraftstoffversorgung. Bestehend aus zwei Kanistern für den innenliegenden Außenborder.

Der Clou bzw. zwei davon waren die Erdnägel. Abgesägte Stücke Baustahl, mit denen das Boot vertäut werden sollte. Hammer dazu und - nuja, Tau konnte man dazu nicht sagen. Eher so Schnur. Beheizt werden - war ja schließlich Oktober - sollte der Karton (Ihr merkt, ich weigere mich weiterhin hier von Boot zu sprechen) mit einem 7-Zoll-Konvektor an der Gasbuddel. Das Ding war allerdings in Kombi mit den beiden Herdplatten klasse. Viel besser als die Dieselheizung auf der Meeuwe in Holland.

Hatten wir also den Pappkarton. Wind gab es keinen. Fing das Morvan-Gebirge ab.  Eindampfen über die Vorspring war daher nicht von Nöten. Was soll man machen? Erst mal lecker Mittagessen. Nur wo? Der Nachbar blätterte noch in irgendwelchen Empfehlungen eines halbseidenen Automobil-Clubs:"Ich finde nix." Als mein Vatter ankam:"Ich hab mit den Anglern gesprochen. Um kurz nach eins haben wir einen Tisch bei Madame Poussot." Den Namen sprach er mit eigentümlich verkampfter Grimasse aus.

Welche Angler? Wer war Madame Poussot? Wenn mein Vater eins konnte: Quatschen. Mit allen und mit jedem. Französischkenntnisse hin oder her. Und er hatte einen Riecher für die außergewöhnlich gute Fresserei.

Im batteriebetriebenen Weltempfänger dudelte:"Der Bruder ruft die Brüder" - das Pausenzeichen der Deutschen Welle. Die Männer setzten Prinz-Heinrich-Mützen auf. Wir Jungs hatten Elbsegler. Mutter Nachbarin lief - soweit ich mich erinnere - ohne Kopfbedeckung. Auf ging's zu Madame Poussot.

Das Boot das wir bekommen hatten war kein Boot. Folglich war das Restaurant, das wir jetzt sahen, auch kein Restaurant. Eher so ein Kaufmannsladen mit zwei angeschlossenen Räumen. Vor der Tür stand ein mittelgroßer Bus. Ausflug des Rentner-Clubs von weiß der Kuckuck wo. Nennt sich in Frankreich Club de Troisième Age. Ziel dieser Vereine ist es Busse zu mieten und zu irgendwelchen entlegenen Läden zu fahren, wo dann richtig rein gehauen wird.

Die Club-Leutchen hatten sich in Raum eins ausgebreitet. Dann kamen wir. "Haben Sie reserviert?" - "Non." Madame Poussot hatte kurze, braune Haare, eine dicke Hornbrille und war voll bepackt mit leeren Tellern - das Gesicht von einer maskenhaften Gestenlosigkeit. Die Rentnerband war offensichtlich schon fertig mit Essen. Werden wohl gleich gehen. Dachten ich. Madame machte so eine Geste mit dem Kopf. Wir sollten in Raum zwei sitzen.

Raum zwei war leer. Nur an einem Tisch saßen zwei ältere Herren, die meinem Vater schon beim Eintreten fröhlich zuprosteten. - "Das sind die Angler!" - Speisekarte gab es, Auswahl gab es nicht. Mein Vater suchte Rat am Nachbartisch, um zu erfahren, was denn nun was sei. Die Angler führten die Zeigefinger zu den Schläfen, plapperten irgendwas von Hors d'œuvre, zeigten auf die Zunge, Boeuf, fromage, dessert. Und als sie merkten, dass mein Vater nicht folgen konnte, hieß es: "Grand menu, grand menu." Und Daumen hoch.

Madame Poussot kam und mein Vater bestellte fünf Mal Grand Menu. Während Madame sich für die Bestellung bedankte und abdackelte, brütete der Philologe noch über der Karte. "Hors d'oeuvre, weiß ich überhaupt nicht, was das sein soll. Œuvre ist ja Werk. Blätter, blätter:"Ich finde nix." Aber Terrine, das ist klar. Das ist 'ne Suppe. Nur was für eine steht hier nicht. Bestimmt Zwiebelsuppe.

Das Grand Menue startete und, nein, Suppe war das wirklich nicht. Das war eine fingerdicke, postkartengroße Überraschung. Ein Batzen brauner Fleischteig. Die Terrine. Namensgebend war hier nur die Tonschale, in der sie gebacken worden war. Dazu scharfer Senf und klitzekleine saure Gürkchen mit Silberzwiebeln. Cornichons. Mit der Holzzange fischten wir sie aus einem Steingutpöttchen.

Das alleine wäre heutzutage schon mit Baguette als eine anständige Mahlzeit durchgegangen. Unterdessen dachte der Rentner-Club in Raum eins nicht im Traum daran, die heiligen Hallen zu verlassen. Stattdessen hörten wir immer mal wieder Ohs und Ahs, wenn Madame Poussot einen weiteren Gang auftrug.

Die Angler hatten einen Käsewagen hingestellt bekommen und taten etwas, was bei meinem Vater und mir eine Essgewohnheit auf einen Schlag revolutionierte: Sie aßen Käse mit dem Messer. Einfach so! Ecke abgeschnitten. Mit dem Messer aufgespießt und weggeputzt. Zwischendurch Baguette geknuspert, Schlückchen Wein dazu. Sensationell.

Was war das für ein Hallo, als mein Vater und ich am heimischen Abendbrottisch die neue Verzehrvariante für Käse vorführten. Meine Mutter war ja nicht mit von der Partie. "Ja, was ist den jetzt los? Seit wann isst man mit dem Messer?" - "Jupp. Haben wir in Frankreich bei den Gourmets gelernt. Gehört so!"

Aber zurück zu Madame. Die Angler verabschiedeten sich und unser Grand Menue ging in die zweite Runde. Bouchées à la reine standen auf dem Programm. Der Philologe: "Irgendwas mit Königin." - Allerdings kam nicht Dame, sondern Turm. Zwei stattliche Türme, Blätterteigtürme. Von Türmchen zu sprechen verbot die schiere Dimension der Dinger. Gefüllt waren sie mit einem Kalbsragout, dessen Fleisch eine eigentümliche Konsitenz hatte.

Es war Kalbszunge. Die Angler hatten es ja erklärt. Hätte man es mir vorher gesagt, dass es Zunge gibt, hätte ich wohl verweigert. Aber so: Einfach lecker. War prima abgeschmeckt mit etwas Zitrone. Frische Champignons dabei. Lustiger kleiner Blätterteigdeckel on-top. Konnte man sehr gut essen. Und eigentlich waren wir nach den beiden Türmen satt, aber aus Raum eins brandete das nächste "Aaah!" auf und hoch die Tassen.

Nach einer kleinen Pause waren wir dann auch wieder an der Reihe. Madame schleppte eine riesige Silberplatte rein. Mittendrauf: Ein rosa gebratenes Roastbeef gerahmt von Salatbüscheln. Proteste der weiblichen Besatzung ("Ih, das ist ja gar nicht durch!"). Erstickte mein Vater im Keim mit:"Rosarot. Genau, wie es sein soll. Lecker." Dazu angeröstete Kartöffelchen. Und, attention: "Sauce Bernaise." Habe ich niemals wieder so gut gegessen. Reste wurden mit den Salatbüscheln aufgemoppt.

Der Philologe protestierte: "Das ist ja viel zu viel. Für mich ist das kein Essen. Das ist schon Fressen."  Er schielte dabei natürlich schon bigott auf den Käsewagen, der noch am Anglertisch stand. Raum eins schien einen eigenen Käsewagen zu haben, denn wir bekamen tatsächlich das Gefährt der Angler.

Baguette hatte Madame Poussot reichlich nachgelegt und wir probierten von allen Sorten ein Eckchen. - Wann wurde eigentlich die Unsitte eingeführt, dass man nur drei Käse nehmen darf? - Natürlich wurde nur mit dem Messer verzehrt. Hatten wir ja schließlich gerade erst von den Anglern so gelernt. Anders gegangen wäre es sowieso nicht, denn Gabeln gab es keine.

Der Ranzen spannte schon gewaltig. Als Madame Poussot gestürzten Apfelkuchen brachte, zu dem es selbstgemachte Vanillesauce gab. Der Philologe schaufelte sich zusätzlich noch einen Berg Eischnee rein, den er ebenfalls mit Vanillesauce übergoss. Bei mir war Ende im Gelände. Mein erstes Mahl. Mein erstes Grand Menu. Ein Traum. Dachte ich.

Eine Woche später nahmen wir wieder Kurs auf die Basis von Flot Home. Wir schippertem dem Ende der Bootsferien entgegen. Wir freuten uns auf ein abschließendes Grand Menu bei Madame Poussot. "Bei der Alten an der Schleuse in Fleury haben wir mit Abstand am besten gegessen", resümierte mein Vater unsere kulinarischen Abenteuer im Burgund.

Der Schuhkarton war vertäut. Prinz-Heinrich- und Elbseglermützen aufgesetzt. Abmarsch. Doch die Enttäuschung war riesig. Keine Angler. Kein Bus. Kein Licht bei Madame Poussot. Wir liefen um das Gebäude. Glotzten durch die Scheiben. Dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Madame Poussot sperrte auf. "Was wir wollten?" - "Na, lecker Mittagessen, wie in der letzten Woche."

Jaha, das wäre die totale Ausnahme gewesen. Normalerweise würde sie wegen ihrer Parkinsonerkrankung überhaupt keinen Restaurantbetrieb mehr fahren. Aber weil die Leute vom Seniorenclub nett angefragt hätten. Und die Angler, die kämen immer dazu, wenn ein Bus vor der Tür stünde. Ende vom Lied: Baguette und Käse gekauft und abgedackelt.

Noch Jahre später schwärmte mein Vater von dem Grand Menu bei Madame Poussot. Warum eigentlich Poussot? Den Namen hätte die Gastronomin an der Schleuse von Fleury nicht von ihm, sondern von den Anglern. Wäre ja auch irgendwie einleuchtend. Den Parkinson-Patienten hätten ja dieses typisch mimiklose Gesicht, wie die Wachsfiguren im Kabinett von Madame Poussot in Paris.

Politisch korrekt ist eine solche Herangehensweise natürlich nicht. Auch orthografisch nicht. Aber kulinarisch war es ein Volltreffer.
--
En bald.

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