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Messeresser

Am 30. Mai 2010 war Weltuntergang. Zumindest Weltuntergangsstimmung am Abendbrottisch meiner Mutter. Sie säbelte in eine Tomate rein, es machte knacks und der Holzgriff ihres Tomatenmessers war unkittbar auseinandergebrochen."Jetzt ist das auch kaputt."

Dazu muss man wissen, es handelte sich nicht um irgendein Tomatenmesser, sondern es war das erste eigene Tomatenmesser, das meine Mutter sich nach Flucht und Vertreibung, Zoff zu Hause und Migration nach Schweden im Dienste des schwedischen Hochadels geleistet hatte.

Tomatenmesser genießen übrigens im pommerschen Zweig meiner Familie hohes Ansehen und dürfen bei keinem Abendbrot fehlen. Die zugehörigen Tomaten werden ganz und gar jungfräulich in einer extra Schale mit Pfeffer- und Salzstreuer auf den Tisch gestellt und dann ritualhaft verzehrt.

Die Tomaten werden Geviertelt, mit Salz und Pfeffer bestreut und wandern dann mit dem Gabelfortsatz des Tomatenmessers in den Mund. Als Kinder hatten wir einen riesigen Spaß mit den Tomatenmessern, weil man so das "Mit dem Messer isst man nicht"-Gebot unterlaufen konnte. Mal eben eine kleine Gurke oder Rote Bete reinschieben. Ist ja ein Tomatenmesser – damit darf man das!

Im Herbst 1980 lockerte mein Vater dieses Gebot dahingehend, dass nun auch mit normalen Messern ohne Zuhilfenahme der Gabel gegessen werden durfte - allerdings nur Käse.

Und das kam so: Nachdem wir 1979 aufgrund mangelnder Seemannschaft in Zeelands küstennahen Gewässern beinahe Schiffbruch erlitten hatte, verkündete mein Vater: "Diesen Herbst geht's nach Frankreich! Auf den Nivernais-Kanal. Da ist Fahren einfach und Essen ist auch besser." Das dort dutzende Schleusen im Handbetrieb zu bedienen waren, wurde uns erst auf dem Kanal bewusst.

Meine Mutter klingte sich sofort aus und meldete sich für eine Leistungssportveranstaltung an. Mein Vater heuerte den Nachbarn, Altphilologen und vermeintlichen Französischkönner Oberstudienrat B. nebst Gattin und Nachwuchs an.

Das Boot wurde in Fleury im Département Niévre übernommen. Schuhkarton mit Außenborder. Kein Bad, keine Küche, kein Klo. – Hunger.

Noch bevor der Oberstudienrat den Langenscheidt gefunden hatte, verhackstückte mein Vater mit zwei Anglern, dass es nun ins Restaurant an der Schleuse gehen sollte und wir dort das grand menu ordern sollten. Während der Oberstudienrat noch mit dem Finger durch die Speisekarte irrte, hatte mein Vater schon grand menu für alle bestellt und Madame Poussot – Patronin, Köchin und Kellnerin in einer Person, die nebenbei noch einen Tante-Emma-Laden betrieb – wackelte mit Ehrfurchtgebietenden Tellern mit Leberpastete heran. Dazu cornichons, die mit einer Holzzange aus einem Tongefäß gefischt werden mussten.

Der Oberstudienrat war noch in die Weinkarte vertieft, als mein Vater sich schon bei den Anglern schlau gemacht und "deux carafe pichet" bestellt hatte. War zwar nicht ganz richtig formuliert, aber Madame Poussot brachte das Gewünschte.

Es folgten ragoût fin in Blätterteigtassen, allerlei Gemüse und rosiges (Frau vom Oberstudienrat: "Das ist ja gar nicht durch!") roastbeef.

Erneut wurde eingedeckt: Kuchenteller und Messer. Frau vom Oberstudienrat: "Sollen wir jetzt den Kuchen mit dem Messer essen?" Nö, denn erst kam noch der Käsewagen, von dem die Angler gerade abgelassen hatten. Und die hatten uns gerade gezeigt, wie es geht: Käseecke abgeschnitten, mit dem normalen Messer aufgespießt und schnurstracks in die Futterluke befördert – in bester Tomatenmessermanier.

Das Entsetzen war natürlich groß, als mein Vater und ich – nun wieder zu Hause – Käseplatten verlangten, um diese dann nur mit dem normalen Messer zu verputzen. "Ist das jetzt die neueste Masche? Mit dem Messer isst man nicht!" – "Haben wir bei den französischen Feinschmeckern abgeguckt. Ist Weltklasse. Macht man so."

Während meine Mutter der pommerschen Tomatenmessertradition treu geblieben ist, verlangten mein Vater und ich nach weiteren Frankreichfahrten Exotisches: Tomaten sollten mal als Salat mit Olivenöl, Schafskäse und Kräutern auf den Tisch. Dazu Baguette.

Und das zerbrochene Tomatenmesser vom Anfang? Nuja. Bereit zum Abschied sein und Neubeginne. Wenige Tage später hatte meine Mutter Geburtstag und ich hatte den Eindruck, über das geschmiedete Tomatenmesser von Dick hat sie sich gefreut.
--
En bald

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